Limit - the best crags in Tirol

62 63 »Es gehört naturgemäß zum Anblick des Ozeans, dass er selbst poetisch durchschnittlich begabte Gemüter zum Tiefsinn ermutigt.« Die Linsen seiner Augen fixieren die Linse seiner Handykamera. Mit einem Selfiestick hält er sein Smartphone auf Distanz, als er diese Sätze in die Kamera spricht. Was plappert der da? Hier ist doch weit und breit kein Meer. Ich bin soeben am Standplatz der zweiten Seillänge der Route »Ois Guade« oberhalb der Wemeteigenalm angekommen. Mir gegenüber hängt der Kletterer einer anderen Seilschaft in seiner Standplatz- sicherung – verharrend in seiner Selfiepose. Wir sind gerade auf die Seilschaft aufgelaufen. Was macht der hier? »Ihr könnt gerne überholen«, betont er freundlich. »Danke, gerne«. Neugierig bin ich nun aber doch. »Was hat es mit dem Meer auf sich?«, frage ich. »Ich mache eine Instagram Story übers Klettern hier.« Er sei nicht nur begeisterter Kletterer, sondern auch Universitätsprofessor für Geologie in Berlin. Und dieser Fels sei nicht nur qualitätsmäßig von allerhöchster Güte, sondern auch geologisch von größtem Interesse. Aha! Vor circa 200 Millionen Jahren, im Zeitalter der Trias, bedeckte nämlich das Urmeer Thetys diese Gegend. Damals entstand der gesamte Felsriegel zwische Stein- platte und Almenwelt Lofer als Korallenriff. Steinkorallen und andere Meerestiere bauten mit ihren Kalkskeletten das Riff auf. Am Ende der Triaszeit versank es in der Tiefsee und wurde erst durch die Alpenfaltung wieder emporge- hoben. Interessanterweise handelt es sich dabei um das einzige Trockenriff Europas. »Diese Entstehungsgeschichte erklärt auch die außergewöhnliche Felsqualität«, führt er begeistert aus. Tatsächlich findet sich nirgendwo sonst in Österreich so erstklassiger Fels in solchen – im doppelten Sinn – rauen Mengen. Auf über 11 Kilometern Länge erstreckt sich das Felsband aus der Urzeit mit Wandhöhen bis zu 150 Metern zwischen den Orten Waidring und Lofer. Selbst weitgereisten und weltgewandten Kletter- afficionados klappt beim Anblick dieser versteinerten Verheißung regelmäßig der Unterkiefer herunter. So weit, dass ein Besuch beim Kieferorthopäden angeraten wer- den muss. Und hier wird nicht übertrieben! Niemals! Edu Marin aus Spanien beispielsweise, der 2019 in China eine der schwersten Mehrseillängenrouten der Welt erstbege- hen konnte, meinte bei seinem letzten Besuch: »Es ist ein Wunder, dass dieser Felsriegel aus perfektem Riffkalk weltweit so wenig bekannt ist.« Auch der Lokalmatador Markus Bendler, seines Zeichens zweifacher Ex-Welt- meister im Eisklettern und Erstbegeher zahlreicher Rou- ten, ist überzeugt: »Hier, zwischen Wemeteigen und dem Urlkopf, gibt es noch Potential für Generationen.« Ge- meinsam mit weiteren Locals hat er in den letzten Jahren sukzessive dafür gesorgt, dass die Bohrhakendichte am endlosen Felsriegel zunimmt. Ebenso seinen Heimvorteil genutzt hat Alexander Huber und mit einigen sparsam gesicherten Routen ein Kontrastprogramm zu den bes- tens abgesicherten alpinen Sportklettereien geschaffen. Was jedoch allen Routen gemein ist, ist der perfekte Fels, der mit hedonistischen Henkelorgien, leiwanden Loch- passagen (leiwand = großartig auf Österreichisch) und launigen Leistenzügen aufwartet. Vielfach ist der Typus des filigranen Fußtechnikakrobaten gefragt. Wer Platten- kletterei an scharfen Tropflöchern liebt, wird hier fündig. Da Kletterer liebend gerne Analogien bilden und diese Art der Kletterei auch in dem französischen Weltklassegebiet Verdonschlucht vorherrscht, nennen sie das Riff auch »Verdon Tirols«. Spätestens beim Abseilen an der Loferer Alm drängt sich der Vergleich mit dem Topklettergebiet auf - denn hier wie dort erreicht man die Einstiege der Routen nur von oben. Das Adjektiv »verdonesk« wurde zum Inbegriff für perfektes Kalkgestein und charakterisiert damit auch fast alle Klettereien an dem Tiroler Riff. Aber Stopp! Es handelt sich dabei um eine völlige Verkennung der Sachlage. Denn eigentlich ist die Verdonschlucht nicht viel mehr als die Steinplatté Frankreichs! Die Franzosen nennen perfekten Plattenkalk neuerdings steinplattesque. Steinplatte | Steinberge | Unendlich Auch in den Loferer Steinbergen im Hintergrund finden sich endlose Klettermöglichkeiten. Zum Beispiel die »Ende Nie«, die mit 38 Seillängen und 1.600 Klettermetern zu den längsten Touren der Alpen zählt. In the background, you can see the Loferer Steinberge, another great playground with infinite climbing opportunities. An example is »Ende Nie«: 38 pitches and 1,600 metres in length, make the route one of the longest of the Alps. | Steinberge | Steinplatte

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