Limit - the best crags in Tirol

36 37 Im Schein unserer Stirnlampen stolpern wir schlaftrunken Richtung Einstieg. Zu unserer Linken reckt sich teerschwarz das Totenkirchl mit seiner 600 Meter hohen Westwand in den Nachthimmel. Vor uns eine noch größere Pyramide: die Kleine Halt. Sie ist mir ihrer 800 Meter ho- hen Nordwestwand die größte Wand im Kaisergebirge. Unsere kleinen 15-Liter-Rucksäcke liegen leicht auf den Schultern, aber der Schweiß steht uns trotzdem auf der Stirn. »Es wird ein brutal heißer Augusttag werden, wenn es jetzt schon so dampfig ist«, meint Christoph. Er ist soeben stehengeblieben, um sein verschwitztes Gesicht im eiskalten Wasser des Mirakelbründels, einer Quelle am Wegesrand, zu kühlen. Ich tue es ihm wortlos gleich. Christoph und ich haben uns 2013 im Wilden Kaiser bei der Bergführerausbildung kennengelernt. Seither ver- bindet uns eine Freundschaft, die uns als Seilschaft vom »Koasa« bis in den Himalaja geführt hat. Christoph zählt zu den besten Alpinisten Österreichs. Mit jedem Schritt der Annäherung wird die schattige Nordwestwand beeindruckender. Gestern Abend, von der Terrasse des Hans-Ber- ger-Hauses aus, sah sie noch viel freundlicher aus, als die unterge- hende Sonne sie in ein warmes Licht getaucht hatte. Die Sonnenun- tergänge dort auf der Terrasse sind etwas ganz Besonderes – kitschig auf jeden Fall, aber auch mit einem Heimatgefühl verbunden, das eigenartig berührt. Heimat. Was ist das? Ein großes missbrauchtes Wort vielleicht? Ich bin hier aufgewachsen und komme immer wieder gerne zurück. Zurück in ein Paradies der Erinnerungen, aus dem dich niemand vertreiben kann. Und die Terrasse ist voll von Erinnerungen. Start- und Endpunkt vieler Kletterabenteuer und – noch bedeutsamer – zahlreicher zwischenmenschlicher Begegnungen. Einer, der man hier fast immer begegnet, ist Silvia Huber, die Wilde Kaiserin, wie sie mit ironischem Augenzwinkern genannt wird. Seit 1990 regiert sie die Hüt- te, die bereits ihr Vater Adi Huber bewirtschaftete. Seit ihrem sechsten Lebensjahr verbrachte die Steirerin jeden Sommer hier. Die 56-Jährige gehört nicht nur zum Inventar des Kaisergebirges, sondern auch zum Stadtbild von Kufstein. Denn sie fällt auf, wenn sie mit zwei verschiede- nen Schuhen gekleidet und in ihrer lauten und lustigen Art die lästigen Behördengänge in der Altstadt erledigt. Wie auf keiner anderen Hütte schafft es Silvia mit ihrem herzlichen Team, dass sich der Wandergast als König fühlt, der Klettergast aber als unum- strittener Kaiser. Natürlich steigert diese Willkommenskultur das Gefühl des »Dahoamseins«. Denn wer wird nicht gerne im Kaiser kaiserlich hofiert? Leichtfüßig tänzelt Christoph die erste Plattenlänge empor. »Via Aqua« – der Name ist Programm. Das Wasser hat über Jahrtausende wun- dervolle Felsstrukturen erodiert. Überhaupt der obere Teil der 1.000 Klettermeter ist eine einzige Wasserrillenorgie. Doch so schön hier das Wasser die rauen Griffe geformt hat, so hässlich zeigt es sich bei einem Gewitter. Innerhalb weniger Minuten verwandelt sich dann die Kletterlinie in einen reißenden Sturzbach. »Wer dieses Naturschau- spiel einmal gesehen hat, kann sich getrost eine Reise zu den Niagara- fällen sparen«, scherzt Adi Stocker, seines Zeichens Erstbegeher der Route und zugleich Autor des Kletterführer »Longlines«. In diesem Führer hat er die längsten Klettereien der nördlichen Kalk- alpen gesammelt. Und weil der Mensch von jeher Jäger und Sammler ist, gibt es immer mehr Kletterer, die Longlines sammeln wie andere Panini Fußballsticker. Diese neue Longliner-Spezies sorgt auch dafür, dass die »Via Aqua« inzwischen die begehrteste Tour im Kaisertal ist. »Ungefähr 15 Begehungen erhält die Tour durchschnittlich pro Sommer«, erzählt uns Silvia. »Manche unterschätzen jedoch die Ab- sicherung. Zwar ist die Route für eine Alpintour gut mit Bohrhaken gesichert, aber teilweise liegen sie über 10 Meter weit auseinander.« In Kombination mit der Länge der Tour führt dies häufiger zu Berg- rettungseinsätzen. Fast in einem Flowzustand flitzt Christoph über die letzten herrlichen Plattenpassagen der 24 Seillängen. Inzwischen quält uns die Glut der Sonne. Sie hat uns Mund und Rachen ausgedörrt. Wäre dieses Heft ein Comic, so würden über unseren beiden Köpfen Gedankenblasen stehen mit einem blinkenden TAB-Emoji (Tourenabschlussbier-Emoji) darin. Am frühen Nachmittag kommen wir ausgetrocknet wie zwei Dörrpflau- men am Hans-Berger-Haus an. »Wie war’s, aber noch wichtiger, was mögt’s denn trinken?«, fragt uns eine gutgelaunte Silvia. Die Antwort ist klar. Auf einer der tibetischen Gebetsfahnen, die mit einer Leine über die Terrasse gespannt sind, lese ich den Spruch: »Für ange- nehme Erinnerungen muss man im Voraus sorgen« (Paul Hörbiger). Wie wahr! Danke an Adi Stocker und Silvia Huber für eure Arbeit im Voraus, die unser Klettererleben im Nachhinein so bereichert. | Kufsteinerland | Kleine Halt Grau in Grau Trostlos, öde! Für uns Kletterer hat die Farbe eine komplett andere Bedeutung: Grau ist die Hoffnung, grau ist die Lebenslust, grau ist die Erfüllung. Grau in grau sind die schönsten Tage! Bleak, barren, dull! For climbers, this color has an entirely different meaning: For us, grey means hope, love of life and fulfillment! Grey and drab are our most beautiful and memorable days! Nomen est omen Gebi Bendler erfreut sich an der Wasserrillenorgie in der 10. Seillänge (6) der »Via Aqua«. Gebi Bendler enjoying the ama- zing water grooves in the 10th pitch (VI) of »Via Aqua«.

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