Klein, aber oho. So könnte man die Tannheimer Berge in der Nähe von Reutte beschreiben. Sie sind bekannt für ihre nicht allzu langen Mehrseillängenrouten auf der Sonnenseite.
Weniger bekannt hingegen ist, dass es in den Tannheimern auch massive Nordwände gibt. Satte 750 Meter Klettervergnügen bis zum neunten Grad bekommt ihr dort.
Headerbild: Schattenspiel
Sarah Stenico mit letzter Kraft im letzten Licht und in der letzten Seillänge von „Schrei aus Stein“. Dahinter die Köllenspitze, mit 2.238 m der höchste Gipfel der Tannheimer. Früher trug dieser Berg den schönen Namen Mätzenarsch.
Sind Sammler glücklichere Menschen? Diese Frage hat auf den ersten Blick nur wenig mit dem Klettersport und noch weniger mit den Tannheimern zu tun, oder doch? Schon die Neandertaler sammelten Gegenstände, die sie nicht zum Überleben benötigten, sondern das Leben an sich schöner machen sollten, wie Korallen, fossile Muschelschalen oder Bernstein. Aber was macht das Leben tatsächlich schön? Asketen würden behaupten, dass der Verzicht die Lebensphilosophie schlechthin sei. Nur das Credo „Weniger ist mehr“ mache glücklich.
Wortwörtlich genommen widerspricht das dem Bergsteigen. Denn am Berg wollen wir immer mehr und ganz hoch hinaus. Vielleicht wollte deshalb über Jahrtausende niemand so recht die Berge besteigen? Was sollten wir schließlich auf diesen landwirtschaftlich nutzlosen und noch dazu gefährlichen Bergen ausrichten, außer vielleicht Gämsen zu jagen oder besondere Kräuter und Edelsteine zu sammeln? Das Lebensnotwendige und somit das Glück müsse demnach im Tal liegen. Erst im 19. Jahrhundert begann sich eine neue Spezies Mensch herauszubilden: der Gipfelsammler. Nun wurde es modern, nach Erstbesteigungen zu jagen anstatt nach Gämsen. Das Bergsteigen entwickelte sich vom Mittel zum Zweck – zum Selbstzweck. Wenige Kilometer nördlich der Tannheimer residierte damals eine der ersten Gipfelsammlerinnen überhaupt, und zwar Königin Marie von Bayern, die Mutter des Märchenkönigs Ludwig II. Die gebürtige Berlinerin führte den Beinamen „Bayerns erste Alpinistin“. Mitschuld an dieser Leidenschaft war der Ausblick von ihrer Residenz Hohenschwangau in die Tannheimer Berge. Als sie mit 16 an den bayerischen Hof kam, musste die junge Abenteurerin aus der Großstadt dort unbedingt hinauf. Tatsächlich hat sie dann so gut wie alle Gipfel der Tannheimer gesammelt, sogar den Mätzenarsch – welch seltsamer Name. So hieß bis ins Jahr 1854 die Köllenspitze, der höchste Gipfel der Tannheimer. Wie kam es zu dieser Umbenennung? Mätzenarsch lautete im Volksmund die derbe Bezeichnung für den Allerwertesten einer Prostituierten und so eine Frivolität wollte man der jungen Edeldame nicht zumuten, weshalb man den Berg kurzerhand nach einem „in der Kelle“ benannten, benachbarten Kar umtaufte.
19. Jahrhunderts eine neue Spezies in den Tannheimern hinzu: der Routensammler. Jetzt, als alle Normalwege bestiegen waren, mussten schwerere Anstiege durch immer noch steilere Felswände gesucht werden, um sich als exklusive Sammler von den gemeinen Gipfelsammlern abheben zu können. Gewissermaßen läuteten diese Felsakrobaten eine neue Steinzeit in den Tannheimern ein. Denn genauso wie sich die Steinzeitmenschen für kaum eine andere Tätigkeit als das Sammeln von steinernen Faustkeilen interessierten, entwickelten die Kletterer eine Leidenschaft für das Sammeln von steinernen Griffen, die ebenso wenig Zeit für andere Vorlieben gewährte. Eine Episode aus der Anfangszeit dieser neuen Steinzeit sei hier geschildert: 1896 sollte der Westgrat eines der bekanntesten Kletterberge der Tannheimer erstbegangen werden.
Bei diesem Projekt waren klingende Namen aus der Alpingeschichte vertreten, wie Bachschmid, Weixler und Christa. Nach letzterem ist sogar ein Gipfel im Wilden Kaiser benannt, der Christa-Turm. Jedenfalls überlisteten die drei Herren die Schlüsselstelle mithilfe eines Steigbaumes und pinselten nach der Erstbesteigung eine freche Botschaft an den Anfang der glatten Stelle: „Nur Mut Johann!“ Die drei Scherzkekse hatten nämlich Johann zu Hause bei seiner Frau gelassen, weil er sich dem Abenteuer nicht gewachsen fühlte. Johanns vermeintliche Feigheit ging in die Geschichte ein, weil der Westgrat seither unter dem Namen der Pinselei bekannt ist. Selbst unter den Sportklettereien im Frankenjura gibt es inzwischen eine Route mit diesem Namen. Wer hätte gedacht, wie weit Johann seither herumgekommen ist.
Wer also gerne Routen oder Gipfel mit amüsanten Hintergrundgeschichten sammelt, der wird in den Tannheimern fündig. Fündig werden aber auch andere Sammlertypen. Nachdem die Seven Summits und alle 14 Achttausender zu einer banalen Sammlung verkommen sind, sucht der Mensch nach neuen Herausforderungen. Dabei entstand der Typus des ornithologischen Gipfelsammlers. Das sind Menschen, die Alpengipfel mit Vogelnamen sammeln. Diese Sammler müssen etwa auf den Hochvogel in den Allgäuer Alpen steigen, der aus einigen Blickrichtungen vielleicht wirklich so aussieht wie ein gewaltiger Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Oder auf die Krähe im Ammergebirge, den Falkenstein im Bayerischen Wald. Oder eben auf den Gimpel in den Tannheimern.
Der 2.173 Meter hohe Gimpel ist der prominenteste und markanteste Zacken unter den Klettergipfeln hier und hat so gar nichts mit dem kleinen, etwas pummeligen Piepmatz gemein. Die oben beschriebene
„Nur Mut Johann!“ führt auf sein Haupt und ebenso wird berichtet, dass der Gimpel mit dem schwierigen Normalweg, der einzige Gipfel der Tannheimer sei, auf den es Königin Marie nicht geschafft habe.
In unserer Sammlergeschichte spielt der Gimpel, dessen Namen übrigens von Gumpe, „Gümpel“ abgeleitet wird, die Hauptrolle. Denn hier gibt es nicht nur sonnige, kurze und bestens abgesicherte Südwandrouten, sondern das Sammlerstück schlechthin in den Tannheimern: die Nordwand mit der „Schrei aus Stein“. Man kann Sammlern vorwerfen, dass sie sich mit ihrer Leidenschaft sozialen Status und Prestige verschaffen wollen, indem sie Dinge sammeln, die nicht jeder sammeln kann: Ferraris zum Beispiel, Gemälde von Van Gogh oder die längsten Jachten. Oder eben Longlines. Das sind die längsten Routen der Nördlichen Kalkalpen.
40 davon hat Adi Stocker in einem Buch gesammelt. Seither herrscht ein regelrechtes „G’riss“ um diese Routen, die – wie Adi schreibt – „einem ein gemeinsames Versprechen machen: eine Ausbeute an Erlebnissen und Eindrücken, die weit länger anhält als die zeitliche Länge der Kletterei.“
Allein von daher bietet diese Sammlung viel mehr als nur Materielles. Wobei „Schrei aus Stein“ mit dem Schwierigkeitsgrad 9- durchaus das Zeug dazu hätte, den sozialen Status in Kletterkreisen zu heben. Und ein bisschen soziale Anerkennung brauchen wir doch alle, oder nicht? Nochmal zurück zum Anfang und zur Frage, ob Sammler glücklichere Menschen seien. Man muss nicht den wissenschaftlichen Studien glauben, die dies mit ja beantworten, sondern nur Stephan und Sarah nach der Begehung von „Schrei aus Stein“ fragen:
„Longlines-Sammeln macht glücklich. Definitiv!“
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- Gimpel Nordwand / Route ‚Schrei aus Stein‘
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