Das Ötztal bietet weit mehr als die Wintersportmetropolen Sölden und Ober-/Hochgurgl. Im letzten Kapitel unserer Serie „Heimatklettern“ zeigen wir euch, was das Ötztal an imposanten Gletscherlandschaften, perfekten Kletterfelsen, überraschend warmen Seen und nicht zuletzt an Kultur und Geschichte zu bieten hat.
Das Ötztal ist mit seiner Länge von 65 Kilometern das längste Seitental des Inntals und das längste Quertal der Ostalpen. Darüber hinaus lässt es sich in fünf Stufen gliedern, die sich sowohl in klimatischer als auch in landschaftlicher Hinsicht deutlich voneinander unterscheiden: Während am Talbeginn bei Sautens im milden und regenarmen Klima Obst, Kastanien und sogar Wein gedeihen, herrscht in Obergurgl auf 1.907 Metern Höhe ein raues, hochalpines Klima.
Hinzukommen 67 Gletscher, die im Naturpark Ötztal zu finden sind, entsprechend liegen 18 Prozent der Naturpark-Gesamtfläche im ewigen Eis. Und um die Zahlenserie noch zu vervollständigen, locken neben 250 Dreitausender-Gipfeln auch gut 600 Kletterrouten im Ötztal. Darunter 19 Klettergärten und zahlreiche Mehrseillängengebiete – ein echtes Eldorado, das neben Kletterspaß auch zahlreiche Möglichkeiten für Berg- und Schaf-Geschichte(n), Hüttenkultur und Funsport bietet. Mögen die Sommerspiele im Ötztal beginnen …
Gletscherprägung, Naturgewalt und Passvergnügen
Sein Aussehen samt den markanten Steilstufen, wo sich die Straße über enge Kehren nach oben kurbelt, hat das Ötztal der Natur zu verdanken: Einerseits formten mächtige Gletscherzungen das schmale Trogtal, andererseits verpassten Bergstürze dem inneralpinen Trockental die terrassenartigen Landschaftsstufen. Fulminanter Höhepunkt: Die Timmelsjoch Hochalpenstraße, die Tirol mit Südtirol verbindet und die sich in vielen Kehren auf 2.474 Meter Passhöhe emporschiebt. Gerade mal 17 Monate Arbeitszeit wurden für den Straßenbau auf der österreichischen Seite benötigt. Die Befahrung einer der schönsten Hochalpenstraßen ist gleichermaßen für Rennradsportler und Motorradfans ein MUSS.
Interessant: Rennradprofi Emanuel Buchmann hat am 28. Mai 2020 einen neuen Rekord bei der „Everest Challenge“ aufgestellt: In 7 Stunden und 28 Minuten ist er die Timmelsjoch Hochalpenstraße so oft raufgeradelt, dass er die Gipfelhöhe des Mount Everest erreichte: 8.848 Meter. Die Fahrt war für einen guten Zweck – insgesamt kamen 14.000 Euro an Spendengeldern zusammen.
Kletter-Roadtrip durchs Ötztal – Stopp 1: Haiming
Aber kommen wir zurück zum Wesentlichen. Ihr habt drei Wochen Sommerurlaub und keinen Plan, wohin die Reise gehen soll? Wir empfehlen einen Kletter-Roadtrip durchs Ötztal! Heimat erleben und viel Neues entdecken … Und als Startpunkt definieren wir Haiming, das zwar am Inn liegt, aber nur einen Katzensprung entfernt quasi das erweiterte Tor zum Ötztal markiert.
Kletterziel ist die mächtige, mehrere hundert Meter hohe Geierwand. Traumhafte Mehrseillängenrouten, aber auch ein Klettersteig sowie ein Klettergarten salutieren als „Begrüßungskomitee“ für den Ötztal-Trip. Die Routen sind allesamt perfekt eingebohrt, der Fels (Kalk) zeigt sich griffig und rau. Besonders schön: Die Route „Nebraska“ mit satten elf Seillängen. Wer es eine Spur einfacher möchte, zum Warmklettern sozusagen, sollte in die „Inntal Sinfonie“ (max. 6a+) einsteigen – eine Traumtour inklusive Panoramaausblick. Und weil die Auswahl und der Kletterhunger groß sind, bleibt man einfach ein oder zwei Nächte in Haiming.
Der Wildwasser-Tipp
Das kleine Dorf am Inn ist Tirols Zentrum für geführte Rafting- und Canyoningtouren. Hier haben sich in den frühen 1990er-Jahren die ersten Anbieter für den Wildwasserspaß angesiedelt und sind geblieben. Die Teilnahme ist unkompliziert, einfach in eines der Zentren gehen, zu einem Trip anmelden und ab geht die Post durchs wilde Wasser des Inns oder auch der Ötztaler Ache. Im Übrigen gerade nach einer langen, kräftezehrenden Mehrseillängentour an der Geierwand eine willkommene Erfrischung – ist doch die Wand südseitig ausgerichtet …
Stopp 2: Oetz und Sautens
Verlässt man Haiming, führt der Weg durch südländisch anmutende Föhrenwälder, vorbei an Ötztal Bahnhof ins Ötztal. Zu den nächsten Kletterspots hat man nicht weit: Mit den Klettergärten Oetz und Rammelstein in Sautens wandelt sich die Gesteinsart. Hatten wir an der Geierwand noch Kalk unter den Fingern, gilt es ab jetzt im Granit seinen Weg nach oben zu finden.
Wer mag, klettert morgens im südseitig ausgerichteten Klettergarten Oetz und streckt am Nachmittag die Füße ins kühle Nass. Ganztägige Kletterei an Rissen, Dellen und Leisten verspricht der nordseitig ausgerichtete Klettergarten Rammelstein in Sautens. In beiden Arealen finden sich Routen sowohl für Einsteiger als auch ambitionierte Kletterfans.
Der Abenteuer-Tipp
Die Area 47 ist der perfekte Spielplatz für Wasserratten und Höhenjunkies: Wakeboarden, Wasserrutschen, Hochseilgarten-Begehungen in schwindelerregender Höhe. Hier schlagen die Herzen von Fun-Enthusiasten höher – egal, welchen Alters.
Der Genuss-Tipp
Die Landschaft im vorderen Ötztal mit ihren vielen Obstbäumen eignet sich ideal für einfache Wanderungen oder Genussradtouren. Wer es nicht ganz so trubelig wie in der Area 47 möchte, aber trotzdem gerne schwimmt, der fährt beispielsweise mit dem Rad ab Oetz zum Piburger See. Jause nicht vergessen, oder Geld einstecken für einen Sundowner am See. Sehr romantisch.
Stopp 3: Tumpen/Engelswand
Ein Klassiker und allein deswegen einen Stopp wert: Die Engelswand ist wegen ihrer Lage, dem einfachen Zustieg und der breiten Wiese am Wandfuß bei vielen Familien sehr beliebt – völlig zu Recht. Die Kids, aber auch die Erwachsenen können hier einen gechillten Klettertag verbringen – und dabei schön abwechselnd klettern, ausruhen, Kühen beim Ausruhen zuschauen, Kühen beim Grasen zuschauen, selber was essen und dann wieder klettern – und zack, steht die Sonne schon schräg und der Abend wird eingeläutet.
Stopp 4: Umhausen/Stuibenfall
Wie wäre es mit einem Ruhetag? Den verbringt man zum Beispiel mit dem Bestaunen des höchsten Wasserfall Tirols. Der Stuibenfall bei Umhausen stürzt sich über zwei Steilstufen auf 159 Metern mit viel Getöse in die Tiefe. Vor allem an heißen Sommertagen eine köstliche Erfrischung auf der Haut.
Wer nicht ganz auf Felskontakt verzichten möchte, kann hier einen interessanten Klettersteig begehen. Der Steig führt auf einer Länge von 450 Metern links und rechts des Wasserfalls nach oben. Durchaus imposant: Die Überquerung des Wasserfalls über Drahtseile. Der Klettersteig ist für Kinder ab 10 Jahren geeignet. Danach ein Eis, oder zwei, und fertig ist der perfekte Kletter-Ruhetag.
Stopp 5: Längenfeld/Nösslach
Gut ausgeruht und mit neuer Energie geht es auf dem fünften Stopp zum Mehrseillängenklettern nach Nösslach. Die Wand ist in Richtung West/Südwest ausgerichtet, es lohnt sich also früh aufzustehen, auch um als erste Seilschaft noch in aller Ruhe in den Klettertag starten zu können. Wie wäre es beispielsweise mit der „Träumerei“ oder der Route „Sonnenblume“?
Die schönen Linien im Gneis verlangen eine präzise Fußarbeit sowie einen ausbalancierten Körperschwerpunkt. Meter für Meter geht es bergwärts und mit jedem Kletterzug kommt man mehr in den Flow – was für ein Traum. Und weil das gar so schön ist, geht man noch eine Tour, und noch eine, oder macht ein paar Baseclimbs im Klettergarten … Das Leben kann so einfach und herrlich sein, vor allem als Roadtrip, auf dem man sich treiben lassen kann, getreu dem Motto: Sleep, Climb, Repeat – die 600 Routen sind noch lange nicht geklettert.
Hüttentouren und Steinzeit-Feeling (2,5-Tage-Tour)
Aber es gibt ja noch so viel anderes zu entdecken, wie beispielsweise die Ötzi-Fundstelle am Tisenjoch. Wer sich auf die Spuren der Steinzeit begeben möchte, braucht alpine Erfahrung und die richtige Ausrüstung. Ist beides gegeben, dann wäre folgende Tour eine Möglichkeit: Von Vent über die Martin-Busch-Hütte (2.501 m) auf die Similaunhütte (3.017 m) aufsteigen und hier übernachten (vorab Übernachtungsmöglichkeit und Verfügbarkeit online checken!). Am nächsten Tag geht es dann auf das nahe Hauslabjoch (3.208 m) und zur Fundstelle der Ötzi-Mumie. Es folgt ein langer Abstieg ins Tal oder eine Übernachtung auf der Martin-Busch-Hütte. Dann ist es knieschonender …
Transhumanz – Schafgeschichten oder die Geschichte des Schaftriebs
Sehr empfehlenswert im Herbst: Eine Hüttentour auf die Bella Vista/Schöne Aussicht Hütte, denn hier kommen Mitte September 3.000 bis 4.000 Schafe mit ihren Hirten und Hütehunden auf ihrem Weg zurück ins Schnalstal/Südtirol vorbei. Im Juni ziehen die Schafe in die Sommerfrische ins Ötztal – im Herbst geht es wieder zurück in den Stall. Bei dem Schafübertrieb überwinden die wolligen Genossen samt ihren Hirten und den Hunden an zwei Tagen zirka 44 Kilometer – definitiv ein besonderes Schauspiel. Zusätzliches Plus: die Schutzhütte Bella Vista verfügt über eine Sauna und einen Hot-Tub.