Vor 40 Jahren wagten zwei Tiroler mit Hammer und Schlaghaken eine Erstbegehung im Wetterstein. Jetzt kommen sie mit der Bohrmaschine wieder: Was man von einer Routenerschließung im Wetterstein über die Entwicklung des Klettersports in Tirol lernen kann.
Sie bohren wieder
Drei Klänge bleiben von diesem Tag und Erstbegehung im Wetterstein in Erinnerung: Das Pfeifen der Murmeltiere am Zustieg, das Pfeifen des Windes in der Wand und das Pfeifen der Bohrmaschine beim Einbohren. Nun gut, Pfeifen mag hier ein Euphemismus sein, die Bosch 18V macht halt, was Bohrmaschinen so machen: Lärm.
Aber immer nur recht kurz, 25 Sekunden später bestimmt dann wieder der Wind die Geräuschkulisse. Es folgen ein paar rhythmische Hammerschläge, um den Expressanker in das frisch gebohrte Loch zu hämmern, ein paar Umdrehungen mit dem Schraubenschlüssel und fertig ist der Bohrhaken. „So Luis, der hält mal für die nächsten 100 Jahre“, meint Thomas – und seilt sich ein paar Meter tiefer, um die perfekte Stelle für den nächsten seiner Art zu finden.
Thomas Schöpf ist mein Vater, Luis Knabl sein ältester Kletterkamerad. Die meisten Ehen halten nicht annähernd so lang, wie die beiden schon miteinander durch steile Wände steigen: 45 Jahre. Auch wenn Luis in Hinsicht Alter ein gewisses Phänomen darstellt, die meisten schätzen ihn wohl so 20 Jahre jünger, zeitloses Sixpack und jugendliche Aufgewecktheit inklusive.
Zu dritt hängen wir in einem grauen Meer aus Kalk im Wettersteingebirge, jenem Felsmekka, an dem früher zuverlässig Klettergeschichte geschrieben wurde. Die “Morgenlandfahrt”, der “Bayerische Traum”, die “Locker vom Hocker” – allesamt ikonische Routen, eröffnet vom “Who’s who” der damaligen Kletterelite und auch heute noch anspruchsvolle Testpieces.
Die klingenden Namen finden sich in den eindrucksvollen Südabbrüchen der Schüsselkarspitze, unweit des legendären “Klettergarten Chinesischen Mauer“. Wir hängen ein paar hundert Meter weiter westlich des Schüsselkar, am Nachbarberg der Scharnitzspitze. Hier ist die Wand nicht ganz so hoch und auch nicht ganz so steil, aber immer noch von derselben Felsqualität. Und vor allem: Nicht ganz so dicht erschlossen, hier gibt es auch heute noch Neuland für Erstbegehungen.
Erstbegehung im Wetterstein – Neuland suchen
Und genau deshalb sind wir hier, wir und die Bosch 18V. Nicht zum ersten Mal, und wohl auch nicht zum letzten Mal, denn eine neue Route vernünftig abzusichern ist neben der obligatorischen Schinderei auch ziemlich zeitintensiv. Zwei Seillängen wollen wir heute mit glänzenden Bolts und Laschen ausstatten, das ist unser bescheidenes Tagesziel.
Aber warum macht man so etwas überhaupt, Kletterouten einbohren? Gibt es nicht schon genug Auswahl, kurz bis lang, wild bis plaisir? „Irgendwann will man halt auch seinen Teil beitragen und etwas hinterlassen. Und in meinem Fall sind das eben gut abgesicherte Mehrseillängen, die man auch ohne Furcht und Todesangst klettern kann, etwas für Familienväter und Pensionist:innen“, sagt Thomas. Und natürlich, ein wenig Selbstverwirklichung schwingt da auch mit, und ein „Schauen, ob der Körper das nochmal hergibt.“
Die beiden sind früher jährlich nach Südfrankreich gepilgert, in die Verdonschlucht, nach Briancon, weil man dort nämlich etwas tun konnte, was in Tirol in den Achtzigern und Neunzigern so noch nicht möglich war: Klettern, ohne dabei automatisch Existenzängste zu bekommen. Dort war er nämlich schon allgegenwärtig, der Bohrhaken, und mit ihm auch der Spaß an der Sache. „Mei, wie oft ist es bei uns auch knapp hergegangen, Luis? Früher, das waren schon vogelwilde Zeiten. Ich hab‘ mich genug gefürchtet in meinem Leben, ich brauch‘ das nicht mehr“, sagt Thomas.
Inspiriert von der Einstellung der Franzosen haben die beiden als Seilschaft dann bereits 1993 die vielleicht erste ausschließlich mit Klebehaken gesicherte Erstbegehung im Wetterstein, genau gesagt an der Schüsselkarspitze umgesetzt: Mon Cheri, sieben Seillängen bis 8-. Im Jahre 2000 folgte noch als weitere, ausschließlich mit Bohrhaken abgesicherte Route: Die Wolke Sieben (7 SL, 7+) an der Schüsselkarspitze, die mein Vater mit Andi Klotz eröffnete und die sich mittlerweile als anspruchsvolle Plaisirroute viele Freunde gemacht hat.
Was aber in den 40 Jahren, die seit dieser ersten Erstbegehung vergangen sind, nicht verloren gegangen ist, ist die Leidenschaft, mit der die beiden dem Element Fels gegenübertreten. Wild mit den Händen gestikulierend schwärmen Luis und Thomas von der neuen zweiten Seillänge der Figaro, „des wird eine Himmelsleiter, riesige Löcher und traumhafte Wasserrillen, des kannst du dir nicht vorstellen, so gut wird die“, heißt es mit kindlicher Aufgeregtheit. Auch das ein ganz großes Faszinosum bei Neuerschließungen: Der Entdeckerdrang, das Auskundschaften, ob etwas überhaupt kletterbar ist, die Lösungsfindung.
Zeugen alter Zeiten
Eine Zeitzeugin furchtvollerer Tage ist die vermoderte Bandschlinge, die wir vom Standplatz aus ein paar Meter weiter drüben im Wind flattern sehen. „Die ist noch von uns, vom allerersten Versuch dieser Erstbegehung im Wetterstein. 38 Jahre hängt die jetzt schon da“, erzählt Thomas. Und die Geschichte dazu, die geht so: Luis und er sind anno dazumal eben wieder einmal ins Wetterstein rauf, viel andere Möglichkeiten gab es in Tirol noch nicht, ausgestattet wie üblich mit Hammer, Schlaghaken und Klemmkeilen. Aus der ins Auge gefassten Linie wurde aber nichts, ein Gewitter hatte in der Nacht den ganzen Wandriegel durchnässt. Die ganze Wand? Nein, ein schmaler Streifen an der Scharnitzspitze war wundersame Weise trocken, also sind die beiden einfach da rauf.
Donnerwetter heißt die Route in der Erinnerung, aber veröffentlicht wurden sie nie. Dann passierte eben 38 Jahre lang: nicht viel. Wiederholung ist keine bekannt, „irgendwie schade, denn der Fels hier ist grandios und der Zustieg bequem“, sagt Luis. Nur ohne Topo und ohne verlässliche Sicherungspunkte wird sich das auch nicht ändern, also jetzt: Einbohren, für die Nachwelt verfügbar machen. Figaro soll sie die neue Route heißen, italienisch für Friseur, der Luis bis zu seiner Pension im nahen Telfs war. Und an der ursprünglichen Donnerwetter wird mit ein paar Begradigungen die Kaufmann von Venedig entstehen.
Linien zeichnen
Der Bohrhaken ist wahrscheinlich die Erfindung, die das Klettern am stärksten verändert hat. Die Bewegung am Fels, die ist genau die gleiche, nur die Konsequenzen im Falle des Falles sind eben grundlegend andere. Und damit natürlich auch die Bereitschaft, an sein Limit zu gehen. Als Luis und Thomas mit dem Klettern sozialisiert wurden, da gab es weder bei einer Erstbegehung im Wetterstein, noch sonst in einer Route, weit und breit keine Bohrhaken. „Wenn du die Leberle (4+) geklettert bist, dann warst schon wer“, erinnert sich Luis. Klettern gehen, das beinhaltete damals noch fast selbstverständlich die Ungewissheit, ob man am Abend wieder nach Hause kommen wird.
Doch seit den wilden Lehrjahren hat sich eben so einiges geändert.
Die beiden haben Kinder bekommen, unter anderem eben mich, Häuser gebaut, verantwortungsvolle Jobs übernommen – und Klettern ist in der Zwischenzeit von einer Randsportart für Freaks zum olympiatauglichen Massenphänomen geworden. Man könnte auch sagen, die Bandbreite an Möglichkeiten hat sich vervielfacht, Klettern ist demografischer geworden.
Wer sich gern mental fordert, der findet immer noch genügend Möglichkeiten, in wilden Routen an sein Limit zu gehen. Wer das aber nicht will, wer einfach nur einen genussvollen Klettertag im traumhaften Ambiente des Wettersteingebirges erleben will, der kann jetzt auch zu den Südwänden der Scharnitzspitze gehen. Muss nicht in die Donnerwetter einsteigen und fluchen, kann die Figaro gehen und einfach nur das Leben genießen.
Topo “Figaro” (6c+ / 7a), Scharnitzspitze
Das Topo als pdf zum downloaden: Figaro Topo
Update Juni 2023:
Schöpf/Knabl haben mittlerweile drei weitere Erstbegehungen in diesem Teil der Scharnitzspitze realisiert: “Toni 93” (6b+, 2022), “Der Kaufmann von Venedig” (6b+, 2022) und “40 Jahre danach” (6b, 2023).
Übersicht neue Routen Scharnitzspitze:
Topo mit Routenüberblick Scharnitzspitze Südwand:
Topo “40 Jahre danach” (ehemalige “Donnerwetter”):
Weiterführende Infos:
- Zustieg: Vom Gaistal in der Leutasch am besten mit dem (e-)Bike zur Wangalm, von dort in gut einer Stunde zu Fuß gerade hoch zu den bereits sichtbaren Wänden der Scharnitzspitze.
- Route: Die Figaro (8-/8 bzw. 6c+/7a) befindet sich im linken Wandteil der Scharnitzspitze, gleich links der „Für Madln und Buam“ (8-/8) und wurde im Juni 2022 fertiggestellt.
- Abstieg: Mit Doppelseil über die Route abseilen. Das Abseilen ist auch mit einem 70 Meter Einfachseil möglich.
- Material: Danke unserem Climbers Paradise Partner Austrialpin für die Hardware!
- Literatur: „Wetterstein Süd“ von Grübler/Hangl/Neuner, erschienen im Panico Alpinverlag, 3. Auflage 2016