Sturzangst überwinden, Foto: Martina Scheichl | Climbers Paradise
Sturzangst überwinden, Foto: Martina Scheichl

Nur nicht ans Fallen denken: So überwindest du deine Sturzangast

Angst ist Teil des Kletterns. An manchen Tagen kaum spürbar, überwältigt sie uns an anderen mit voller Wucht. Aber wie kann man sie eindämmen, sodass es nicht zur völligen Blockade kommt? Hier findest du einige wertvolle Strategien, wie man mit der (Sturz-)Angst umgehen kann.

Die verschiedenen Gesichter der Angst

Angst kann sich in verschiedene Erscheinungsformen äußern, beispielsweise in

  • Angst vor einem (schlecht gesicherten) Sturz,
  • Angst vor der Höhe,
  • Angst vor weiten Hakenabständen,
  • Angst vor schlechtem Material
  • oder Angst vor nichts Konkretem, sondern nur Angst, die einfach da ist.

Angst kennt also viele Gesichter und nur die wenigsten Kletterer können von sich behaupten, nie welche zu spüren.

Ich vertrete sogar die Meinung, dass Kletterer „gezielt“ Angstsituationen aufsuchen bzw. damit beginnen sollten. Beispielsweise kann jemand, der beim Sportklettern selten Angst hat, ins Gebirge gehen, um dort exponierte und spärlich abgesicherte Routen zu klettern. Doch warum sollte man das tun? Die Antwort ist klar, denn beim Verlassen der Komfortzone expandiert man die individuellen Möglichkeiten und Fähigkeiten.

Sturzangst überwinden und befreiter klettern, Foto: Martina Scheichl | Climbers Paradise
Sturzangst überwinden und befreiter klettern, Foto: Martina Scheichl

Die Angst und ihre Vorteile

Angst ist Teil des Spiels Klettern – und sie hat auch einen wesentlichen Vorteil: Nicht nur, dass Angst unsere Sinne schärft. Sie hilft uns, fokussierter zu sein, und pusht!  Wir konzentrieren uns, denn die gefürchtete Situation soll ja nicht eintreffen.

Zusätzlich gehen wir gestärkt und stolzen Hauptes aus der Angstsituation hervor, wenn wir sie überwunden haben. Wir wachsen an der Angst. Diese Art von Angst ist positiv und man kann sie dem Eustress zuordnen. Es handelt sich also um Angst im Sinne von Stress, der uns pusht.

Wenn die Angst zu viel wird

Blöd nur, wenn die Angst blockiert.

Gerade beim Klettern erfahren viele Menschen eine lähmende Angst. Man traut sich nicht, weiterzuklettern, man schafft es nicht, sich zu konzentrieren. Meist enden diese Situationen im Seil sitzend oder auf dem Pad. Diese Art von Angst ist dem Distress zuzuordnen. Der durch die Angst erzeugte Stresslevel ist zu hoch, wir können ihn nicht bewältigen und werden durch die Angst gelähmt.

Oft ist die Angst beim Sportklettern oder Bouldern aber irrational. Als Gegenbeispiel versetzen wir uns mal in folgende Situation: Wenn wir super schnell auf Skiern einen Steilhang runterbrettern, dann ist die Angst oft geringer, als wenn wir einen Meter über dem letzten Bolt stehen, obwohl das Verletzungsrisiko und -ausmaß hundertfach größer ist.

Schräg, oder?

Wenn die Angst zu groß wird, Foto: Martina Scheichl | Climbers Paradise
Wenn die Angst zu groß wird, Foto: Martina Scheichl

Was kann man gegen zu viel Angst tun?

Ich bin keine Psychologin – vielmehr kann ich euch nur sagen, was ich als Kletterin mache, um mit der Angst umzugehen.

1. Ich mache mir meine Angst bewusst

Wovor habe ich überhaupt Angst? Habe ich Angst, weil ich schon so weit über dem letzten Bolt stehe? Oder weil das Sturzgelände nicht gut ist? Ist es, weil ich meinen Sicherungspartner nicht kenne oder ihm vielleicht zu wenig vertraue?

Es gibt zahlreiche Gründe für die Angst. Um daran zu arbeiten, muss ich aber erst benennen können, wodurch diese Angst genau hervorgerufen wird.

2. Ich spreche die Angst laut aus

„Weißt du, ich hatte wirklich das Gefühl, das Sturzgelände ist sehr schlecht. Denkst du, ein Sturz hier wäre schlimm?“ Gemeinsam mit meinem Kletterpartner analysiere ich die Angst. Meistens beruhigt dieser mich, und wenn er das nicht schafft, dann hat mir allein der Akt des Aussprechens schon geholfen, weil ich weiß, dass mein Partner sich jetzt im Klaren darüber ist, dass er an dieser Stelle, in dieser Tour besonders gut auf mich aufpassen muss. Also, Kontrolle abgeben an den Kletterpartner und vertrauen! (Und ist es nicht sehr angenehm, beim Klettern mal etwas weniger im Griff haben zu müssen?)

3. Ich analysiere die Angst

Ist das Gelände wirklich zu schlecht, um zu stürzen? Hat mich mein Kletterpartner wirklich schon so oft in die Wand geblockt? Kann ein Seil reißen oder ein korrekter Knoten sich öffnen?

Klar, wenn ich meine Angst bejahen muss, dann ist es besser, an diesem Tag auf Nummer sicher zu gehen. Ist die Angst aber irrational, dann …

4. … stelle ich mich der Angst

Ich versuche den unsicheren Zug.

Ich klettere ans Limit.

Ich lasse eine Schlinge aus (wenn es nicht gefährlich wird).

Ich klippe erst, wenn ich den Bolt auf Hüfthöhe habe.

Und im Optimalfall: Stürze ich und sehe: nichts passiert (ganz schön unspektakulär eigentlich).

5. Ich beruhige mich selbst

Manchmal aber ist Loslassen keine Option, beispielsweise wenn man auf Durchstieg ist.
Wenn man punkten möchte und immer an einer bestimmten Stelle Angst hat, ist es sinnvoll, früh genug „Beruhigungsstrategien“ einzusetzen.

Positive Selbstgespräche

„Es kann mir nichts passieren beim Sportklettern.“
„Mein Sicherungspartner achtet auf mich.“
„Ich denke nur an den Durchstieg und konzentriere mich nur auf die Route.“
„Mein Material ist super.“
„Stürzen ist ungefährlich.“

 Positive Situationsbetrachtung

 „Stürzen macht mir Spaß und ist der lustige Teil des Kletterns!“
„Stürzen gehört zum Klettern dazu, denn sonst wäre es eine komplett andere Sportart.“

Visualisieren

Ich möchte beim Klettern nicht meine Angst im Nacken sitzen haben, ich möchte den Felsen spüren und die Bewegungen in der Vertikalen wahrnehmen. Visualisieren hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. 

Genauso wie ich die einzelnen Züge meines Projekts visualisieren kann, kann ich auch die Angstsituation vor meinem inneren Auge abspielen lassen und versuchen, die Situation im Geist zu verändern: Ich stelle mir vor, wie die Angst mich überkommt, ich atme tief ein und aus, beruhige mich mental mit positiven Selbstgesprächen („Es kann mir nichts passieren!“) und denke an den nächsten Zug – der ist nämlich das Ziel: Der nächste Zug, und der nächste, und der nächste. Nichts anderes.
Das geistige Abspielen der Situation hilft mir dabei, wenn ich das nächste Mal das Gefühl von Angst habe, denn dann weiß ich, wie ich zu handeln habe: atmen – beruhigen – weiterklettern!

Sturzangst durch geplantes Fallen überwinden, Foto: Martina Scheichl | Climbers Paradise
Sturzangst durch geplantes Fallen überwinden, Foto: Uli Czobak

6. Üben

All das funktioniert natürlich nicht von heute auf morgen. Es braucht Zeit und ich muss das akzeptieren. Wenn ich ein Etappenziel erreicht habe, beispielsweise beim Leadklettern in der Halle keine Angst zu haben oder einen gruseligen Klipper geklippt zu haben, dann stelle ich mich der nächsten Herausforderung; z.B. Stürzen in einer Mehrseillängenroute, einen Bolt (im sicheren Gelände) auslassen usw.

Wichtig dabei ist natürlich immer: Alles muss safe sein – Gelände, Absicherung, Material, Kletterpartner. 

7. Erfolge sichtbar machen

Zum Ziel, Angst zu überwinden, gehört es auch, kleine Erfolge sichtbar zu machen und für sich selbst anzuerkennen. Angst zu erkennen, zu kontrollieren und zu überwinden kann bzw. sollte genauso honoriert werden wie der Durchstieg einer Route. Wer seine Angst überwindet, erzielt damit einen riesigen Erfolg, und das gehört gefeiert!

Dies sind nur einige wenige Strategien, die mir geholfen haben, die Angst beim Klettern etwas einzudämmen.

Man sagt, wenn man etwas wirklich lernen will, dann muss es bis zu 200 Mal wiederholt werden. Also, wer wirklich Sturzangst hat, muss bis zu 200 Mal stürzen, bevor er angstfrei klettern und stürzen kann.

Da ich dieses starke Gefühl der Angst nicht kenne, bin ich mir sicher, ich habe es etwas leichter mit meinen Angstproblemen – und kann mehr Risiko eingehen als andere.

Aber wie gesagt, jeder hat sein eigenes Angstlevel – und auch ich möchte meines ausloten, damit mich meine Angst nicht bremst bei dem, was ich tue.

Die Angst im Griff, Foto: Martina Scheichl | Climbers Paradise
Die Angst im Griff, Foto: Martina Scheichl