„Tirol isch lei oans, isch a Landl a kloans“ – so lauten die ersten Verse eines populären Volksliedes in ebendiesem Landl, und recht hat es damit allemal, das Lied. Klein ist Tirol nämlich tatsächlich, und man könnte meinen, nach guten 15 Jahren intensiv gepflegten Kletterlifestyles innerhalb dieser Landesgrenzen müsste man dann allmählich so ziemlich jeden Stein und erst recht so ziemlich jede Wand kennen. Aber: weit gefehlt.
Fragt mich doch neulich einer, ob ich eigentlich schon mal im Tannheimer Tal ein paar Routen gegangen wäre, und wenn ja, welche da zu empfehlen wären. Uh. Tannheimer Tal … das ist da irgendwo hinter Reutte, oder? Kurz peinlich mal der Frage ausgewichen, um am Abend dann gleich die Führer zu wälzen. Tannheimer Tal, ja bestimmt wunderschön, wenn nicht gleich das „schönste Hochtal Europas“, so formuliert es mal das lokale Marketing, aber kraxeln, taugt das was?
Entdeckung von Klassikern
Und dann, siehe da: Rote Flüh, sagt der Führer, angepriesen als grenzgeniale Südwand, in der kein Steinchen locker wäre, übersät mit großen Klassikern und knackigen Neutouren. Tatsächlich, die weitere Recherche bestätigt: Sogar eine legendäre Pause-Tour führt durch die Flüh, na da schau her, die „Südverschneidung“ (VI+) schaffte es anno dazumal in die Oldschool-Kletterbibel schlechthin, in den Alpen-Auswahlführer Im Extremen Fels von Walter Pause. Argumente genug – also: Schönen Herbsttag abwarten, hinfahren, einfach mal kurz vom Lechtal abgezweigt und ein paar Kurven später steht sie schon zum Greifen nahe vor einem, die Rote Flüh.
Auf ins Tannheimer Tal
Aber nicht nur diese: Fels, wohin man blickt, und da wir mit der Zeit gehen und Glaubensrichtungen sich ändern, entscheiden wir uns für eine Tour aus der zeitgemäßeren Bibel, dem Auswahlführer Moderne Zeiten, quasi der Pause unserer Tage. Darin spielt nämlich der Bohrhaken eine tragende Rolle, die Rostgurken der Südverschneidung lassen wir links liegen und die Rote Flüh heute ebenso, wir pilgern zur Wand daneben, der weit weniger frequentierten Zwerchwand.
Schöner Name. Zugegeben, nicht ganz so hoch, nicht ganz so kompakt, nicht ganz so bekannt, aber gut abgesichert allemal, unsere Bibel empfiehlt: „Miss Nesselwängle“ (8-, 150m) und beschreibt sie als „Dorfschönheit, allerdings eine ganz nette.“ Gefällt uns gut, denn an diesem wolkenlosen Herbsttag schwebt bei uns der Plaisir-Gedanke über allem, gern einmal ohne Fürchten und große Hakenabstände, einfach nur schön Klettern und die Szenerie genießen. Und da hat der Tourismusverband gar nicht viel übertrieben, wirklich traumhaft schön hier, warum genau sind wir schon achtunddreißigmal ins Sarca-, aber noch nie ins Tannheimer Tal gefahren? Egal, gemütlicher Zustieg über das Gimpelhaus, gut eineinhalb Stunden zur Wand, da darf man sich nicht beschweren.
„Miss Nesselwängle“ an der Zwerchwand
Geht auch gleich zur Sache, die „Miss Nesselwängle“: am Einstiegsüberhang kann man bereits die Rotpunktbegehung verschenken, zieht man nicht ordentlich an. Es folgt gemütliches Sechsergelände, das ein oder andere Grasband inklusive Edelweiß-Busch ist auch dabei, bis die Schlüssellänge ganz oben gut die Boulderskills fordert und dabei mit kompakten grauen Plattenkalk besticht. Miss Universe wird sie zwar nicht, die Nesselwängle, aber eben eine Dorfschönheit, ein charmanter Flirt für einen sonnigen Tag. Und oben am Gratausstieg öffnet sich der Blick ins benachbarte Flachland gen Norden, schon auch herrlich, diese Weite, aber man braucht sich nur einmal Richtung Süden umzudrehen, die hunderten Gipfel mit dem Auge zu überfliegen und schon holt einen der Liedtext wieder ein: „Tirol isch lei oans, isch a Landl a kloans, isch a schians, isch a feins, und des Landl isch meins.“
Fakten zur Klettertour
- „Miss Nesselwängle“ (8- oder 6+/A0) an der Zwerchwand, Tannheimer Tal
- Zustieg: ca. 1,5 h von Nesselwängle
- Einkehr: Das Gimpelhaus, 30 Minuten unterhalb der Wände, lädt mit Sonnenterrasse zur Stärkung nach den Touren. Die nahe Tannheimer Hütte ist im Moment geschlossen und wird in den nächsten Jahren neu erbaut.
- Beste Jahreszeit: Herbst
- Zeitbedarf: 2 – 3 h
- Literatur: „Allgäuer Alpen inkl. Tannheimer Berge“, Panico Alpinverlag